Uns erreicht die traurige Nachricht, dass der Übersetzer – aus dem Französischen und Englischen – Andreas Fliedner im Alter von 59 Jahren in Kaiserslautern verschieden ist.
Der Kulturverlag Kadmos in Berlin hat bis jetzt zwei ausgezeichnete Übersetzungen von Andreas Fliedner veröffentlicht, zwei Bücher vom Autor dieses Nachrufs: Tragik und Trauer. Walter Benjamin, Archäologe der Moderne (2017, Original 2003 in Paris) sowie Galizien und Lodomerien. Eine Spurensuche (2021, Original ein Jahr später, 2022 in Paris). Ein Kapitel aus letzterem Buch, „Galizische Erkundungen. Sambor, Stryj, Bolechów“ erschien schon 2020 als Vorabdruck in Sinn und Form.
Andreas Fliedner, 1966 in Bonn geboren, studierte Religionswissenschaft, Philosophie und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Vor dem Studium prägten ihn längere Aufenthalte in London. In einem persönlichen Gespräch sagte er mir einmal, dass seine London-Aufenthalte ihn nahezu unmittelbar in die Welt von Michel Butor – er dachte dabei an dessen ersten Roman, L’emploi du temps – und von Henri Thomas (La nuit de Londres) oder auch von W.G. Sebald (Saturns Ringe) versetzten. Dort beschäftigte er sich mit Autoren des elisabethanischen England, die sein späteres Denken beeinflussten, insbesondere mit John Donne, aber auch mit dem weitgehend vergessenen, auf dem Kontinent kaum bekannten englischen Dramatiker Cyril Tourneur, dessen Tragödie des Atheisten er zu übersetzen begann. Die Übersetzung erschien erst 2013 in der Edition Nachtgänge.
Nach dem Studium, das auch das Latinum und das Graecum einschloss, blieb Andreas Fliedner zunächst in Berlin, wo er ab 2004 ernsthaft seine Übersetzertätigkeit in Angriff nahm, vor allem in den Bereichen Philosophie, Geisteswissenschaften und auch fantastischer Literatur. Er übersetzte sowohl aus dem Englischen, insbesondere (zusammen mit Alexander Pechmann) das der fantastischen Literatur zuzurechnende Werk von H. P. Lovecraft (Das Werk, 2 Bde., erschienen bei Fischer 2017-2019), als auch aus dem Französischen, Autoren, die sich wie Joris-Karl Huysmans (Tagebuch von Unterwegs), Michel de Ghelderode (Eine Abenddämmerung) und Villiers de l’Isle-Adam (Zwei grausame Geschichten) an der Grenze von Literatur und Fantastik bewegen. Im Bereich der politischen Philosophie übersetzte er Condorcet (Freiheit, Revolution, Verfassung) und Fourier (Über das weltweite soziale Chaos). Seit 2007 war er außerdem Mitglied der Redaktion der Zeitschrift FUGE – Journal für Religion und Moderne. Dort erschienen auch mehrere Essays – über Huysmans, Ghelderode, Villiers de l’Isle-Adam und über andere Themen. Später übersetzte er auch Albert Camus, der für sein Denken ebenso sehr wichtig war. Einige von Camus’ Vorträge und Reden (1937-1958) erschienen 2021 bei Rowohlt zum ersten Mal auf Deutsch in seiner Übersetzung.
Wahrscheinlich an dieser Stelle – ich meine, bei den französischen Autoren des 19. Jahrhunderts und insbesondere Fourier – kreuzten sich unsere Wege. Ich hatte mich mit Walter Benjamins Passagenwerk stark beschäftigt; in diesem räumt Benjamin Fourier für die Konzeption der Pariser Passagen als eine Form des diesem vorschwebenden phalanstère eine bedeutende Rolle ein.
Um 2012 oder 2013 habe ich durch die Deutsche Zeitschrift für Philosophie Kontakt mit Andreas Fliedner aufgenommen, als ich auf der Suche nach einem Übersetzer für mein Benjamin-Buch Tragique et tristesse war. Das war gerade die Zeit, als Andreas und seine Frau Franziska von Berlin nach Kaiserslautern zogen. Ich wohnte damals in Paris und wir trafen uns in Saarbrücken: wir lernten uns kennen, als ich einmal in dieser Stadt nahe der französischen Grenze war. Wir haben uns gut verstanden und Andreas übersetzte Tragique et tristesse ins Deutsche für den Kulturverlag Kadmos, später dann Galizien und Lodomerien. Ich war sehr beeindruckt von der Qualität seiner Übersetzung, von der Präzision und Eleganz seiner deutschen Sprache, von seinem hohen, immer passenden Stil, vom Reichtum seines Wortschatzes, von seiner gewandten Verwendung von Redewendungen und seltenen Ausdrücken, dabei immer nah am französischen Text. Ein Meister des Wortes und der Sprache, ein Handwerker der Übersetzung, gehörte Andreas Fliedner zu einer raren Art von Übersetzer, den man heutzutage immer weniger antrifft.
Beim Lesen seiner Übersetzungen verstand man schnell, dass er in erster Linie ein großer Stilist und ein versteckter Schriftsteller war, der sein Schreiben durch die Vermittlung der Übersetzung anderer Autoren antastete, und ich wollte ihn auch als richtigen Schriftsteller entdecken. Da las ich einige seiner Essays und Erzählungen, teils publiziert, teils nicht publiziert – darunter die leider heute sehr aktuelle Erzählung „Die Straße zum Friedhof“ –, die mich davon überzeugt haben, dass Andreas Fliedner es auch verdient, als Autor entdeckt zu werden. Darüber werde ich vielleicht ein anderes Mal mehr sagen.
Andreas übersetzte auch weitere Aufsätze von mir, insbesondere Celan-Aufsätze, von denen einer in Sinn und Form publiziert wurde und dann zusammen mit einem weiteren über Immanuel Weißglas im Rimbaud-Verlag (Celan, Weißglas, die Wasser des Bug, Aachen 2024) erschien. Das Buch Tragik und Trauer erscheint Anfang 2026 in zweiter Auflage, mit seiner neuen und vollständigen Übersetzung des Aufsatzes „Walter Benjamin, Archäologe der Moderne“ als zusätzlichem Kapitel.
Das Ableben von Andreas Fliedner ist ein großer Verlust für die Übersetzerwelt. Es bleibt nun, den Autor zu entdecken, indem seine unveröffentlichten Texte publiziert werden sollten.
Marc Sagnol
